Die Stadt Andernach liegt am Rhein. 1988 feierte sie das 2000-jährige Bestehen. Schon die Römer wussten hier guten Handel zu betreiben. 2010 erregt das Städtchen in der Eifel mit einer besonderen Idee Aufsehen. Das Fernsehen, Zeitungen und vor allem die Netzgemeinde kürten sie zur „Essbaren Stadt“.
Erika Kändler steht vor der alten Schlossmauer und schneidet mit einem Messer Scheiben von einem Kohlrabi ab. Frisch und in Bio-Qualität. Sie erntet in einem Garten, der nicht ihr gehört, sondern der Stadt. Die Stadtoberen legen großen Wert darauf, dass sich ihre Bürger darin bedienen. „Das finde ich sagenhaft“, sagt die Frau in einem Interview in der ARD und strahlt dabei. „Wo früher nur Efeu wuchs, da wächst jetzt was Essbares. Und vor allen Dingen: Wir dürfen das ernten. Da steht kein Schild Betreten der Rasenfläche verboten, sondern hier ist Pflücken erlaubt!“
Alles begann vor vier Jahren. Die Gartenbauingenieurin Heike Boomgaarden und Lutz Kosack, Geo-Ökologe der Stadt Andernach, wagten sich an die öffentlichen Grünanlagen. Jene entsprachen damals dem gängigen Anspruch der Stadtverwaltung. Gepflegte Rasenflächen und die klassischen Wechselbeete, die mehrmals im Jahr neu bepflanzt wurden. Damaliges Ziel der beiden zum einen: die Stadt aufzuwerten. Mit Biodiversität, also dem Anbau von möglichst unterschiedlichen Obst- und Gemüsesorten. Je älter, umso besser. Sorten, für die die landwirtschaftliche Kommerzialisierung keine Verwendung mehr hat. Und zum anderen: mehr natürliche Ästhetik im urbanen Leben durch eine unkomplizierte Annäherung an die Landwirtschaft schaffen. Der Stadtbewohner sollte die Natur haptisch kennenlernen und auch riechen können.
„Für die Bepflanzung unserer ersten Anlagen haben wir fünf Langzeitarbeitslose gewinnen können. Sie wurden von einem professionellen Gärtner angelernt“, erklärt Lutz Kosack. Es habe auch einiges an Überzeugungsarbeit gekostet, den Stadtrat für das Vorhaben zu begeistern. Im Spätsommer 2010 war es dann soweit: die erste Ernte. Vor dem Schloss bedienten sich Andernacher Bürger an den über 100 Tomatensorten. Ein voller Erfolg. Ressentiments gegenüber dem städtischen Gärtnern waren verflogen. Kosack: „Ein Argument war damals, dass besoffene Jugendliche alles niedermähen könnten. Nichts ist passiert.“
Zwölf Monate später pflückten die Städter unzählige Bohnensorten in ihre Körbe. Im darauffolgenden Jahr war die Zwiebel Mittelpunkt der Erdarbeiten. Das Stadtbild Andernachs hat sich bis heute ständig verändert. Auf dem verlassenen Gelände einer alten Malzwerkfabrik nahe am Rheinufer gedeiht eine Wildblumenwiese. Lutz Kosack und Heike Boomgaarden bringen die Kornblume und das Adonisröschen in den Lebensraum von 30.000 Menschen zurück, graben Blumenbeete um. Statt der mehrfachen Bepflanzung im Jahr, sät man den Samen von heimischen Stauden wie Katzenminze und Taglilie. Diese Neugestaltung birgt ein riesiges Einsparpotential für die öffentliche Kasse. Ein Quadratmeter kostet mit der Staudenbegrünung 10 Euro. Eine herkömmliche, vierfache Wechselbepflanzung 70 Euro und mehr.
Das grüne Projekt der Rheinländer ist voll aufgegangen. Die Essbare Stadt hat Vorbildfunktion und der soziale Gesichtspunkt ist gewaltig. Lutz Kosack schwärmt von dem Zusammenhalt der Menschen, wie sie letztendlich auch die Grünflächen beschützen. Von den fünf Ein-Euro-Jobbern bekommen jetzt zwei eine Festanstellung im Gartenbau. „Wir haben über 300 Anfragen von Städten aus dem In- und Ausland“, erzählt der 50jährige. Aus der Schweiz, von Salzburg und Wien. Momentan prominentester Interessent: München. Dort seien gleich mehrere Personen begierig, mehr zu erfahren.
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Die nachhaltige Metropole ist noch lange nicht fertig. Klimawandel und die demografische Entwicklung schreiten voran. Der Geo-Ökologe will weiterhin konsequent bepflanzen. Damit erreicht man die nötige Kühlung der Wohnung und der Häuser.
Erika Kändler hat genug für heute. Mehr kann sie nicht essen. Übermorgen wird sie wieder vorbeischauen und mit „grünem“ Tatendrang Karotten ausbuddeln.
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